Jede Beziehung ist anders, das gilt auch für monogame Beziehungen. Aber was auf die der Norm entsprechende Beziehung gilt, gilt für eine offene Beziehung umso mehr. Jede offene Beziehung ist komplett einzigartig, weil es kein Standardwerk an Regeln und Einschränkungen gibt auf das man zurückgreifen kann.
Eine offene Beziehung kann nur dann überleben, wenn sie auf die individuellen Bedürfnisse aller Teilhabenden zugeschnitten ist und sich mit diesen immer wieder neu erfindet.
Macht eine Einteilung in verschiedene Formen dann überhaupt Sinn? Eigentlich nicht, aber dennoch kann man verschiedene Sub-Gruppen unterteilen und definieren um eine Orientierung zu gewinnen. Das möchte ich in diesem Artikel versuchen.
Was genau definiert eine offene Beziehung eigentlich?
Um über die verschiedenen Formen einer offenen Beziehung zu reden, müssen wir uns erst mal überlegen welche Menge wir in diese Definition überhaupt einschließen wollen. Zum Glück können wir es uns hier relativ einfach machen. Wir definieren als „offene Beziehung“ einfach alles, was nicht der monogamen Norm entspricht. Das bedeutet konkret: Jede Beziehung in der keine ausgemachte emotionale und/oder sexuelle Exklusivität besteht. Ist diese Definition nicht zu weit? Dann könnte man ja auch einfach sagen: Jede nicht-monogame Beziehung.
Auf den ersten Blick mag das so scheinen, aber schaut man genauer hin merkt man doch, dass mit dieser simplen Definition schon eine ganze Menge andere Formen ausgeschlossen werden.
Aus dieser Definition ausgeschlossen ist zum Beispiel das Fremdgehen. Beim Fremdgehen besteht zwar keine sexuelle Exklusivität, aber dieses nicht bestehen ist nicht ausgemacht und somit nicht ein-verständlich. Auch schließen wir diverse „Single Phasen“ mit dieser Definition aus. Wenn man auf diversen Internetportalen jemanden findet der „offene Beziehung“ angibt, so ist das relativ häufig einfach als Scherz gemeint. Eigentlich wird damit zum Ausdruck gebracht, das derjenige sich zur Zeit nicht gebunden fühlt und eventuell mehrere Sexpartner hat. Dennoch lebt diese Person nicht wirklich eine offene Beziehung, da er einerseits laut sich selbst keine Beziehung hat und andererseits grundsätzlich als „Ziel“ hat irgendwann eine monogame zweier Beziehung einzugehen.
Hat diese Person die Monogamie allerdings nicht als Ziel, befindet er sich unter Umständen auf einmal wieder im Rahmen der oben genannten Definition. Dieser Unterschied mag kleinlich erscheinen. In der Praxis drückt dieser gefühlt winzige Unterschied allerdings sogar am ehesten zwei Konzepte aus, die sich nicht noch weiter voneinander entfernt befinden könnten.
Ich habe, um die Übersicht zu erleichtern, überall einen Teil mit „Vorteile, Nachteile und zu empfehlen für…“ eingefügt. Diese Punkte berufen sich natürlich im wesentlichen auf meine individuelle Erfahrung und Einschätzung und sollen mehr eine Orientierung sein als ein definitiver Leitfaden. Funktionieren kann am Ende alles, ich versuche die häufigsten Punkte, die dabei wichtig sind zusammen zu fassen. Natürlich ist damit nicht jede Situation erfasst, sondern im besten Fall nur die Mehrzahl der Situationen.
Aber kommen wir jetzt zu den unterschiedlichen Beziehungsformen, die unter das Label offene Beziehung fallen.
Nicht sexuell exklusive, emotional exklusive Beziehungen
Da wir die Subgruppen über die ich erzählen will auf „nicht sexuell und/oder emotional exklusive Beziehungen“ festgelegt haben, ergibt es Sinn sich anhand all dieser Möglichkeiten entlangzuhangeln. Als erstes wollen wir die Kategorie erforschen in der eine sexuelle Exklusivität nicht mehr besteht, wohl aber eine emotionale.
„Don’t ask don’t tell“-Beziehungen
Bei dieser Beziehung handelt es sich wohl um das gängigste Arrangement, das irgendwie noch unter offene Beziehung fällt. Die Vereinbarung ist simpel: Mach was du willst, aber ich will nichts davon wissen. Ein explizites nicht wissen wollen beinhaltet aber natürlich auch eine strenge Hierarchie, denn man muss alles um den „primären“ Partner, der vor Information geschützt werden will, herum organisieren. Bei vielen Menschen, die diese Form wählen, gibt es irgendwann doch Informationen und daraus entsteht dann viel Leid und Ärger. Dennoch kann es bei anderen eine ganze Weile ganz hervorragend funktionieren.
Vorteile: Man muss sich wenig mit Eifersucht auseinander setzen und auch kaum mit sonstigen neuen Konzepten die man nicht kennt.
Nachteile: Wenn es kracht, dann richtig.
Zu empfehlen für: Menschen mit wenig Neugier und viel Fokus auf Tätigkeiten außerhalb der Beziehung wie Reisen, Karriere oder Hobby, die sich gleichzeitig als emotional eher instabil einschätzen.
Swinger
Swinger sind Menschen, die zwar sexuelle Exklusivität aufgehoben haben, dafür aber ganz klar definierte Regeln haben. Die häufigste Regel ist: Ich will dabei sein, wenn du etwas machst oder wir machen nur zusammen etwas. Viele Swinger Beziehungen sind über Jahre hinweg sehr stabil und können mit Einverständnis von beiden zu einer Erweiterung der Sexualität führen. Gleichzeitig stellt man die grundsätzlichen Normen einer Beziehung nicht wirklich in Frage und kann sich in vielen Punkten entspannt zurück lehnen.
Vorteile: Viele Artgenossen, relativ einfach zu erreichende Stabilität, erweitertes sexuelles Spektrum.
Nachteile: Strikter Ausschluss von Emotion, gegenseitige Abhängigkeit bezüglich sexuellen Abenteuern, betonter Ausschluss von Emotionen kann einem irgendwann auf die Nerven gehen.
Zu empfehlen für: Promiskuitive Menschen, die keine Lust haben sich mit Unsicherheiten herum zuschlagen und kein Problem haben Phasenweise doch in ihrer Sexualität durch den Partner eingeschränkt zu sein.
BDSM Beziehungen
BDSM steht für „Bondage und Discipline, Dominance und Submission, Sadism und Masochism„. Es ist also ein Spektrum von verschiedenen Spielarten, die erst mal nichts mit offenen Beziehungen zu tun haben. Dennoch ist es in solchen Beziehungen relativ häufig Spielpartner oder den unterwürfigen Teil mit anderen zu teilen und dieses Teilen als einen Teil des Spiels mit einzubeziehen.
Im Grunde genommen sind die Überschneidungen zur Swinger Beziehung sehr ähnlich, mit dem einzigem Unterschied, dass die Leute mit denen Geteilt wird und die Umstände unter denen geteilt wird etwas anders sind. BDSM Beziehungen haben die komplette Bandbreite von extrem instabilen bis hin zu sehr liebevollen und stabilen Beziehungen. Die liebevollen überwiegen aber bei weitem.
Wenn die Rollen in einer solchen Beziehung fest verteilt sind, also zu jedem Zeitpunkt gleich ist wer der „Bestimmter“ (Top) ist, ist auch relativ klar, dass dieser Top entscheidet wie genau Partnertausch stattfindet. Natürlich hat auch der unterwürfige Teil (Bot) in der Regel ein irgendwie geartetes Mitspracherecht, aber ein asymmetrisches Machtverhältnis macht hier ja gerade den Reiz aus. Da BDSM Beziehungen sehr unterschiedlich in ihrer Ausprägung sein können, ergibt es wenig Sinn hier allzu viel zu verallgemeinern. Man sollte also im Kopf haben, dass das nochmal eine ganz eigene Welt ist und es hier eigentlich noch mal mindestens genauso viele Facetten gibt, wie bei offenen Beziehungen.
Vorteile: Meist relativ klare Zuständigkeitsbereiche, damit relativ klar kommunizierte Regeln und damit tendenziell weniger Streit Potenzial. Viele Artgenossen. Möglichkeit zu sexuellen Experimenten und tiefer Bindung gleichzeitig. Mit Einschränkung auch emotionale Bindung zu anderen möglich.
Nachteile: Stark Neigungsabhängig, hoher Aufwand sich einzuleben, teilweise sehr starre Strukturen. Viel Wissen um die Szene aus diversen Gründen empfehlenswert. Hoher Kommunikationsaufwand.
Zu empfehlen für: Menschen mit ohnehin vorhandenen BDSM Neigungen, Menschen die auf emotionalen Sonderstatus wert legen und in ihrer Beziehung trotzdem sehr viel kommunizieren möchten.
Sexuell komplett offene Beziehungen mit emotionaler Exklusivität
Die Form von Beziehung, die sich die meisten instinktiv unter einer offenen Beziehung vorstellen. Beide Partner haben die komplette Erlaubnis, mit oder ohne den anderen Partner sexuelle Abenteuer zu erleben, es besteht aber entweder ein totales Verbot zu emotionalen Bindungen oder diverse Sonderregeln die eine emotionale Bindung nahezu unmöglich machen. Hier ist eine Verwechslung mit einer streng hierarchischen offenen Beziehung (siehe unten) möglich und kann zu viel Ärger und Missverständnissen führen. Diese Form von Beziehung sind leider selten wirklich stabil, weil früher oder später meistens doch irgendwie eine emotionale Komponente entsteht, die ja eigentlich nicht sein darf. Ist sie allerdings stabil eröffnet sie die höchstmögliche sexuelle Freiheit, bei gleichzeitig tiefer Bindung und Vertrauen zueinander.
Vorteile: Viel Freiheit und Unabhängigkeit. Gut als Übergangsphase sowohl zu monogamer als auch zu polyamorer Beziehung.
Nachteile: Viel Potenzial für Streit und Missverständnisse. Verstoß gegen die ausgemachte emotionale Exklusivität sehr wahrscheinlich. Viel Vertrauen notwendig.
Zu empfehlen für: Promiskuitive Menschen, oder Paare mit sehr unterschiedlich ausgeprägtem Sexdrive, eher in Qualität als in Quantität. Paare mit sehr viel Vertrauen zueinander und wenig Eifersucht. Paare die sich über die Entwicklungsmöglichkeit der nicht emotionalen-Exklusivität bewusst sind und dieser Möglichkeit nicht mit Schrecken entgegen blicken.
Nicht sexuell exklusive, nicht emotional exklusive Beziehungen
Als nächstes kommen wir zu den Beziehungen, die die emotionale Exklusivität ebenfalls hinter sich gelassen haben. Obwohl man im erstem Moment meinen sollte, dass hiermit alles gesagt sei, gibt es auch hier noch diverse verschiedene Unterformen.
Offene Beziehungen nach hierarchischem Prinzip
Diese Form ist wohl die häufigste Unterform in diesem Bereich, am ehesten weil es sich um eine sehr häufige Übergangsform handelt. Wenn man die emotionale Exklusivität hinter sich lässt, betritt man auf eine ganz andere Art als mit dem weg lassen der sexuellen Exklusivität Neuland. Vielen Paaren hilft es hier sich gegenseitig einen garantierten Sonderstatus zu versprechen. Dieser soll in der Regel Sicherheit geben und gleichzeitig Möglichkeiten offen halten. Auch eine solche Beziehung kann sehr stabil werden, in diesem Fall ist der Sonderstatus und die Rolle weiterer Partner meist sehr eindeutig geregelt und es handelt sich um langsam gewachsene Strukturen.
Eine Hierarchie kann hier sowohl bedeuten, dass es nur ganz bestimmte Sondersituationen gibt in denen der Partner per Definition immer Vorrang hat, als auch in einem komplettem hochkomplexen Regelwerk enden, das eigentlich sämtliche Möglichkeiten im Keim erstickt und so in Wirklichkeit praktisch weiterhin eine emotionale Exklusivität vorhanden ist.
Beziehungen die in diesem Status stabil werden, haben oft eine ganz genau definierte Hierarchie Ebene für alle Partner die neben dem Hauptpartner dazu kommen. Das bedeutet das „Zweitpartner“ von Anfang an über ihren Status als solche Bescheid wissen und jegliche Zweitpartner, die das Potenzial haben die primäre Beziehung ins Ungleichgewicht zu bringen, von vorneherein vermieden werden.
Vorteile: Einfachste zu handhabende Beziehung die eine Emotionalität zu anderen zulässt. Gute Übergangslösung um Sicherheit zu gewinnen. Viele Möglichkeiten für alle Beteiligten.
Nachteile: Möglichkeit des völlig ausufernden Regelwerks. Bei Stabilität nahezu unmöglich die Beziehung nochmal weiter zu entwickeln. Bei Instabilität viel Diskussion und Verletzung, vor allem für die Dritten wahrscheinlich.
Zu empfehlen für: Paare die sich ungern auf reine One Night Stand beschränken wollen und dennoch einen gewissen Rahmen benötigen. Paare die grundsätzlich Polyamorie in Betracht ziehen. Paare die vorher schon klar hatten, was der Unterschied zwischen Friends with Benefits, Sexpartnern und Beziehungen ist und weiterhin nur genau eine Beziehung haben wollen, ohne auf die anderen Dinge zu verzichten.
Bedingt offene Beziehungen (Polyfidelity)
Was soll das denn sein? Eine geschlossene offene Beziehung? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Das mag man im ersten Moment denken, aber das gibt es tatsächlich! In einer solchen Beziehung besteht abgesehen von den Mitgliedern der Beziehung ein Verbot mit anderen Sex zu haben oder emotionale Bindung aufzubauen. Nur, dass die Mitglieder der Beziehung eben mehr als zwei sind. Sie ist also „bedingt offen“ also nur unter ganz bestimmten Bedingungen, nämlich das alle bisher Beteiligten explizit und aktiv zustimmen.
Menschen mit diesem Ziel finden sich aktuell ebenfalls hauptsächlich in der Poly Szene. Sollten sich offene Beziehungen weiter verbreiten und die Gesellschaft gegenüber Gruppen Ehen toleranter werden, rechne ich allerdings leider damit, dass sich diese Menschen komplett von der Bewegung abspalten und auf Seiten der Monogamie Vertreter wechseln.
Davon ausgenommen sehe ich die Beziehungen die zwar formal geschlossen sind, die tatsächliche Vereinbarung aber lautet, dass neue Partner von allen bestehenden Partnern akzeptiert und geliebt werden. Diese Regelung macht eine Erweiterung grundsätzlich möglich, auch wenn mit zunehmender Partner Zahl die Bedingungen für neu hinzukommende natürlich immer schwieriger werden. Dafür muss man sich mit einigen Fragen wie Geschlechtskrankheiten oder Zuständigkeiten und Kinderwunsch eigentlich fast überhaupt nicht mehr beschäftigen, weil sie sich aus dem Konzept direkt selbst beantworten.
Vorteile: Man muss sich nicht mit zusätzlichen Regeln auseinander setzen da diese eindeutig sind. Ressourcen werden von allen gemeinsam bewahrt und „ausufernde Netzwerke“ und der damit verbundene Stress sind ausgeschlossen. Hohe Sicherheit und Vertrautheit. Sehr enge Bindung.
Nachteile: Wesentliche Punkte monogamer Beziehungen werden eigentlich nicht hinterfragt. Schwierig Leute zu finden die ähnliche Wünsche haben. Neue Partner haben es immer schwerer als bestehende und so entstehende strukturelle Hierarchie kann Erweiterung nahezu unmöglich machen.
Zu empfehlen für: Menschen denen ein einziger Partner zu wenig ist, aber zu viele Möglichkeiten zu viel Stress sind. Menschen die gerne sehr viel Kontrolle über ihre Beziehung und Umgebung behalten möchten aber trotzdem gerne mehrere Partner lieben können möchten.
(Egalitäre) Polyamorie
Das, was man am ehesten zu erwarten hat, wenn jemand von Polyamorie spricht. Besonderheit ist hier, dass es keine absoluten Regeln gibt wer wann wie Vorrang hat, sondern alles auf Absprachen beruht, die immer wieder neu besprochen werden können. Daher ist Polyamorie bei Menschen die sich sehr viel damit beschäftigt haben auch etwas als Beziehungsform verschrien, die sich eigentlich nur privilegierte Menschen leisten können. Polyamore Beziehungen sind auf ihre ganz eigene Art oft sehr stabil, da sie das erste Mal weg von der Fixation auf die Zweier-Bindung gehen und hin zu einem Polyamoren Netzwerk. Daher ist die Polyamorie auch eine der Formen, mit denen man am gründlichsten die eignen Normen und Werte aufbricht, dekonstruiert und neue entwickelt.
Gleichzeitig kann Polyamorie auch mit sehr viel Streit verbunden sein und die vielen Diskussionen sind natürlich auch nicht immer nur gegenseitiges wertschätzen und streicheln. Insgesamt finde ich persönlich Polyamorie den besten Kompromiss zwischen maximaler Freiheit und gleichzeitig vorhandenem Sicherungsnetz, was die eigenen Bedürfnisse betrifft. Und da dies die Form ist, die ich selbst bevorzuge, behalte bitte im Kopf, dass ich vermutlich etwas voreingenommen bin. ;)
Vorteile: Maximale Freiheit für alle Beteiligten bei gleichzeitig bestehenden Absicherungen. Hervorragend geeignet wirklich anders denken zu lernen. Bei funktionierendem Netzwerk wunderbar viel Liebe und Zuneigung zu jedem Zeitpunkt.
Nachteile: Wenn es schlecht funktioniert sehr viele Diskussionen und Ressourcen Verbrauch. Wenn es gut funktioniert, kommt man ohne Google Kalender nicht mehr klar. Erheblicher Kommunikationsaufwand und sehr hohe Anfangs-Investitionen notwendig, bis eine stabile Form erreicht ist.
Zu empfehlen für: Menschen die gerne wirklich, wirklich viel kommunizieren. Menschen, welche die monogame Moral komplett hinter sich lassen wollen und dafür eine Übergangsform benötigen, die für sie noch verständlich ist. Menschen die gerne „alles auf einmal für alle“ haben wollen und bereit sind dafür entsprechend viel Aufwand zu betreiben.
Solo Polyamorie
Als letztes in dieser Unterkategorie möchte ich euch noch eine Form vorstellen, die eine kleine Besonderheit darstellt. Diese Form gibt es noch nicht sehr lange und konnte sich überhaupt erst durch dir Existenz von Liebes-Netzwerken richtig entwickeln. Unter Solo Polyamoristen verstehen sich Leute, die zwar gerne Bindungen mit mehren Menschen eingehen wollen, zu aller erst aber sehr viel Freiheit und Unabhängigkeit brauchen.
Diese Menschen wollen gar keine Verpflichtungen und auch keinen „Hauptpartner“ haben, fühlen sich aber trotzdem wohl emotionale Bindungen einzugehen, guten Sex zu haben und die Vorteile eines Netzwerk zu genießen. Ich beobachte in letzter Zeit zunehmendes auftreten dieser speziellen Sonderform. Ich nehme wie gesagt stark an, dass diese Form erst richtig erblühen konnte, seit dem es funktionierende Liebes-Netzwerke und Poly-Familien gibt. Dort können Solo Polyamoristen gut aufgenommen werden und bekommen einen festen Platz, ohne sich zu eingeengt zu fühlen oder diversen Ansprüchen einer „normalen“ Partnerschaft genügen zu müssen, die sie gar nicht wollen. Einen guten (leider nicht mehr weitergeführten) Blog zu dieser Form gibt es unter www.solopoly.net
Vorteile: Alle Vorteile eines Liebesnetzwerk. Gleichzeitig maximale Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Emotionale und sexuelle Bedürfnisse werden erfüllt, ohne den ganzen anderen lästigen Kram. Keine „Beziehungsrolltreppe„.
Nachteile: Kann schwer sein sich ein entsprechendes Netzwerk aufzubauen, oder vorhandenes zu finden. Man kann sich zuweilen doch etwas einsam anfühlen, wenn niemand mit einem in den Urlaub fahren kann. Wenig bis gar kein Verständnis außerhalb der Polyamoren Szene. Mangelnde Reibung lädt dazu ein, eigenen Konflikten ewig aus dem Weg zu gehen und kann so die eigene Entwicklung untergraben.
Zu empfehlen: Menschen die einerseits nicht auf Liebe und Sex verzichten können oder wollen und andererseits sehr viel Zeit für sich brauchen. Menschen die viel Vertrauen haben in ihre Mitmenschen und wenig Angst zu verlieren. Menschen die nicht viel auf Kategorien und Labels wert legen und denen die Praxis wichtiger ist als das, was andere definieren.
Sexuell exklusive, nicht emotional exklusive Beziehungen?
Bevor wir zur letzten Kategorie kommen, möchte ich eigentlich mehr der Vollständigkeit halber noch diese Kategorie erwähnen. Logisch gibt es sie. Praktisch spielt sie allerdings kaum eine Rolle.
Wenn solche Formen von Beziehungen existieren, geraten sie meistens nicht wirklich mit monogamen Beziehungen aneinander. Diese sind im Endeffekt meist meist doch maßgeblich über den Sex definiert und platonische Beziehungen werden eher nicht ernst genommen werden. Eine aller beste Freundin kann theoretisch in diese Kategorie fallen, wird faktisch aber fast nie als Beziehung definiert. Als aktuellstes, am ehesten existierendes Beispiel ist eigentlich nur die Patchworkfamilie oder auch Co-Parenting Gruppen zu erwähnen. Hier existiert oft eine hohe emotionale Bindung durch die gemeinsamen Kinder, gleichzeitig wird Sex aber vermieden. Findet Sex doch statt, redet man eher von einer Poly-Familie.
Zu erwähnen ist auch noch, das historische Beispiel der Romantik, in der solche Formen von Beziehungen die auf rein platonischer Zuneigung basierten wohl häufiger waren und heftiger gelebt wurden. Aufgrund der mangelnden direkten Sanktionen in westlichen Ländern und der Veränderung des Liebes-Ideal ist dieses Beispiel aber nahezu ausgestorben.
Wenn dir zu dieser Kategorie speziell weitere Beispiele einfallen die du für erwähnenswert oder wichtig hältst, schreib mir doch einfach in die Kommentare, oder eine Email! Ich freue mich, wenn ich dazu lernen kann.
Außerhalb dieser Einteilung existierende Formen
In dieser Kategorie wird es nochmal spannend! Denn außerhalb der von mir festgelegten Kategorien, gibt es noch ein paar andere Möglichkeiten, die einfach in keine der Kategorien so richtig passen wollen. Ich erkläre euch so gut es geht, um was es dabei geht!
Mischformen: Mono-Poly Beziehungen
Als Erstes ist natürlich mal an Paare und Menschen zu denken, in denen bezüglich der Regeln und Rechte eine Asymmetrie besteht. Diese ist in diesem Fall dann nicht einfach nur zum jetzigem Zeitpunkt so, sondern von beiden Partnern grundsätzlich so gewollt oder akzeptiert. Das kann zum Beispiel sein, dass einer der beiden monogam ist, der andere aber Sexbeziehungen hat. Es kann auch sein, dass der eine von Beziehung redet, während der andere der Meinung ist, das was man da am laufen hat, sei eher was lockeres.
In allen Fällen ist eigentlich zu irgend einem Zeitpunkt eine gewisse Unzufriedenheit zu erwarten. Es gibt wohl einige wenige Menschen, die sich tatsächlich lieber nur auf einen Menschen konzentrieren und gleichzeitig diesem Menschen erlauben, sich mit beliebig vielen anderen Menschen zu vergnügen. Hier kann es aber allein aufgrund von ungleichen Tagesplänen teilweise sehr schwierig werden, bei beiden noch ein Gefühl von Verbundenheit aufrecht zu erhalten. Trotzdem: Möglich ist es und ich habe tatsächlich auch schon Leute kennen gelernt, bei denen diese Form eine ganze Weile lang gut funktioniert hat.
Vorteile: Einer der wenigen Möglichkeiten Grund unterschiedliche Werte in einer Beziehung zu leben. Für einen der beiden viel Freiheit, bei wenig notwendiger Selbstreflexion. Für den anderen viel Sicherheit, bei wenig notwendiger Kommunikation.
Nachteile: Ungleichheit führt früher oder meist später zu Konflikten. Knall ist dann oft besonders laut. Meist gewachsene Struktur mit wenig Selbstreflexion einer oder beider Partner. Oft grundverschiedene Menschen, die aus komplizierten Gründen trotzdem an einer Beziehung fest halten.
Zu empfehlen für: Partner, bei denen einer der beiden Partner aus irgend einem Grund gerade sehr wenig Interesse an Sex und/oder weiteren emotionalen Bindungen hat und gleichzeitig wenig bis gar keine Eifersucht spürt. Partner, bei denen einer der beiden Partner gleichzeitig extrem eifersüchtig und promiskuitiv ist und der andere kein Problem mit der Asymmetrie hat.
Platonische Beziehungsnetzwerke?
Eine weitere eher theoretische Möglichkeit. Abgesehen von den genannten Möglichkeiten gibt es noch die Möglichkeit, dass alle Beteiligten wenig bis kein Interesse an Sex haben. Bisher sind mir keine solchen Netzwerke persönlich bekannt. Ich gehe davon aus, das mit der zunehmenden Anerkennung der Asexualität diese Form von Beziehungsnetzwerken hin und wieder in Erscheinung treten werden.
Vorteile, Nachteile, Empfehlungen: Nur bei entsprechender Neigung.
Promiskuität
Eine tatsächlich existierende Möglichkeit ist, dass einfach überhaupt kein Bedarf an einer emotionalen Bindung besteht. Ich kenne auch hier wenige Menschen auf die das tatsächlich zutrifft. Es ist auch etwas schwierig diese Form noch unter offene Beziehungen zu fassen, weniger weil es nicht offen ist, sondern mehr weil eigentlich überhaupt kein Bedarf an Beziehung besteht. Außerdem benötigen sie oft keine Gruppe mit der sie sich identifizieren können, da sie ganz gut alleine zurechtkommen. In der Swinger-Community werden sie meist ganz gut aufgenommen.
Vorteile, Nachteile, Empfehlungen: Nur bei entsprechender Neigung.
Beziehungsanarchie
Als letztes gibt es noch etwas, das tatsächlich und wirklich quasi per Definition aus allen Kategorien raus fällt. Beziehungsanarchisten haben die Überzeugung, dass jede Beziehung zu jedem Menschen einzigartig ist, egal ob man Sex hat miteinander oder nicht und Liebe zueinander verspürt oder nicht. Beziehungsanarchisten lehnen die grundsätzliche Einteilung in „Partner“ oder „Beziehung“ und „Freunde“ teilweise sogar komplett ab. Diejenigen die das nicht tun, sind aber auf jeden Fall Befürworter, die Kategorien Hierarchie und bewertungsfrei nebeneinander existieren zu lassen.
Für Beziehungsanarchisten ist die Idee, dass man alles labeln und kategorisieren muss nicht attraktiv und sie wollen daher ohne diese Label auskommen und stattdessen in jeder individuellen Beziehung individuell Regel und Vereinbarungen treffen. So können hochkomplexe Netzwerke entstehen und man hat mit dieser Kategorie nicht nur die monogame Denkweise endgültig hinter sich gelassen, man ist sogar so weit von ihr entfernt, dass man eigentlich ununterbrochen missverstanden wird.
Dennoch ist diese „Beziehungsform“, die ja in dem Sinne keine ist, natürlich hoch stabil, weil es ja im eigentlichen Sinne gar nichts mehr gibt was zerbrechen könnte. Es können nur Bindungen zwischen einzelnen Menschen zerbrechen, oder sogar sich nur verändern, ohne dass das gleich ein Drama sein muss oder die Person aus der Bahn werfen. Leider macht es dieses revolutionäre Konzept auch sehr schwer überhaupt anderen Menschen zu erklären, wie man denn nun eigentlich lebt und damit auch schwer Menschen von diesem Konzept zu begeistern, wenn sie nicht ohnehin schon vorher begeistert waren.
Vorteile: Maximale Freiheit. In sich logische komplette Abwendung von der monogamen Denkweise, bei gleichzeitig maximaler Flexibilität die individuellen Wünsche zu erfüllen. Neben der Solo-Polyamorie einziges Konzept mit realer Abwendung von dem Konzept der „Beziehungsrolltreppe„. Hierarchie freies Denken quasi vorausgesetzt.
Nachteile: Fehlende Definitionen können zu massiven interpersonellen Missverständnissen führen. Wenn innerhalb der Bedürfnisse doch irgendwie die Sicherheit mit drin ist, entstehen meist doch Beziehungs-ähnliche Bindungen. Kaum „wirklich“ durchführbar mit nicht-Beziehungsanarchie-Überzeugten. Keiner versteht einen. Aufgrund von Missverständnissen denken viele, man wolle überhaupt keine engen Bindungen.
Zu empfehlen für: Menschen die kein Problem damit haben, so weit von der Norm zu sein, dass sie nicht nur „komisch“ sondern tatsächlich „alien“ sind, fremd, nicht mehr greifbar. Menschen die sich grundsätzlich und konsequent gegen die Idee der „Paar Beziehung“ stellen. Menschen die gleichzeitig viel mehr Wert auf die reine Praxis als auf Labels geben und bereit sind sich permanent neu zu erfinden. Menschen die Einschränkungen jedweder Art, auch theoretische nur sehr schlecht aushalten.
Schlusswort
Es sei bemerkt, dass ich hier natürlich nur von den Formen berichtet habe die mir bekannt sind. Die meisten dürften sich irgendwo wiederfinden, aber natürlich kann es sein, dass ich irgendwo etwas vergessen habe. Des weiteren habe ich zwar versucht möglichst objektiv Wertungen vorzunehmen, habe aber eben doch überhaupt Wertungen vorgenommen um eine möglichst schnelle Orientierung zu ermöglichen. Wenn du deine Form also eigentlich schon gefunden hast, findest du vielleicht, dass diese ungerecht bewertet wurde. In diesem Fall würde ich dich bitten mir die Punkte mitzuteilen in denen du eine Konkretisierung für notwendig hältst oder findest das ich etwas falsch dargestellt habe.
Ich hoffe, dass dir dieser Artikel vor allem helfen kann zu sehen, wie viele verschiedene Möglichkeiten es gibt und andererseits wie viele Dinge es gibt mit denen man glücklich werden kann. Und vielleicht dich auch auf eine Form hingewiesen zu haben, die dir so sympathisch ist, dass du dich damit identifizieren kannst. Oder sogar dir geholfen zu haben, andere Formen die du bisher noch nicht kanntest, besser wahrnehmen und wertschätzen zu können.
Falls du Anmerkungen oder Kritik hast, oder dir noch weitere Formen einfallen die du für erwähnenswert hältst, schreib mir doch in die Kommentare oder eine Mail unter leo@offenlieben.de !
Viele Grüße und bis bald,
Leo
5 Kommentare
Sebastian
13. Dezember 2016 at 8:15Beziehungsanarchie beschreibt für mich in der Tat keine ‚Beziehungsform‘, eher die Haltung, mit der man Beziehungen begegnet, ohne sich gleich eine Rasterbrille aufzusetzen.
Ich bin, glaube ich, ein Beziehungsanarchist. Wenn ich einen Menschen kennenlerne, der meine Wertschätzung genießt, dann habe ich ein Interesse an einer langfristigen Beziehung. Wie diese Beziehung konkret gestaltet ist und welche Transformationen sie durchläuft, ist ersteinmal zweitrangig.
Wenn ich an die jeweiligen ‚Endphasen‘ meiner ‚Liebesbeziehungen‘ zurückdenke, dann fällt mir auf, dass ich nie verstanden habe, was alle an dem Satz ‚Wir können Freunde bleiben…‘ so doof finden (ich kann es, ich bin (von zwei Ausnahmen abgesehen) mit meinen Ex-Freundinnen vertraut befreundet) und das ein ‚Ende‘ einer Liebes-Paar-Beziehung eben kein Ende der Beziehung ist (wenn man sich einigemaßen anständig verhält). Eine Beziehung endet nicht, sie durchläuft einen manchmal plötzlichen, oft schmerzhaften oder ungewollten, Transformationsprozess.
Danach ist die Beziehung ‚anders‘ aber nicht mehr oder weniger ‚wertvoll‘. Und so sammeln sich enge und erfüllende Beziehungen an, die jede für sich ihre eigene Geschichte und ihre eigene Berechtigung haben. Sie mögen sich auch gegenseitig beeinflussen, aber nicht ausschließen.
Das ist meine Vorstellung von ‚Beziehungsanarchie‘.
Grüße…
Marie
18. November 2018 at 17:42Hallo Leo!
Ganz großes Kompliment für deine Artikel. Du hast eine sehr differenzierte Wahrnehmung und findest klare Worte für dein Empfinden, schaust über den Tellerrand… gefällt mir sehr gut.
Liebe Grüße
Do, 09.05.19, 19:00 Uhr: Polytreff in Mannheim | Polytreff-Rhein-Neckar
25. April 2019 at 16:26[…] noch tiefer einsteigen will, dem kann ich den Beitrag von offenlieben.de empfehlen. Da sind noch viel mehr Formen einer offenen Beziehung […]
Ein Lob an Beziehungen – Was braucht es für eine offene Beziehung? | calaidoskop Institut und Praxis
23. März 2020 at 14:30[…] http://offenlieben.de/13-formen […]
Ein Lob an Beziehungen – Was braucht es für eine offene Beziehung? - calaidoskop Institut und Praxis
14. April 2021 at 10:00[…] http://offenlieben.de/13-formen […]